Frühling in Kischinew
Miriam Magall
Es ist Frühling in Kischinew. Noch ist der Boden leicht
gefroren, und auf den Dächern und Bäumen liegt ein letzter Schnee, aber die
Sonne scheint an diesem Morgen, und die Menschen öffnen zaghaft die Fenster,
wagen sich vor die Tür, blinzeln halbblind in die Sonnenstrahlen.
Im Garten eines Holzhauses, das sich in nichts von seinen
Nachbarn unterscheidet, es ist ebenerdig, enthält nur einen großen Raum, in
dem gekocht und geschlafen und gelebt wird, mit kleinen Fenstern, zur
besseren Durchlüftung öffnet man von Zeit zu Zeit die Tür, wenn die
Witterung es erlaubt, nie aber im langen, kalten Winter, in den Garten
dieses Hauses führt Itzik seine junge, ihm erst im letzten Herbst
anverheiratete Frau Zippi, jüngste Tochter einer traditionsreichen
Gelehrtenfamilie, die hier in einer der unruhigsten Gegenden im Reich des
Zaren ein frommes Leben führt, geleitet sie liebevoll an der Hand zu einer
Bank. Zippi, schwerfällig und schwanger mit ihrem ersten Kind, Itzik hofft
auf einen Sohn, der Erstgeborene wird immer ein Sohn. Zu den Mizwot erziehen
und in Thora und Talmud unterrichten will er ihn, damit er einst Ehre macht
der langen Kette von Gelehrten, in der Itzik und sein Vater, sein Großvater
und sein Urgroßvater und immer weiter zurück in die Vergangenheit, bis zur
Zeit des Tempels im Goldenen Jerusalem, vor langen, langen Jahren, ein
festes Glied bilden.
Zippi, klein und zart, jetzt durch den gewaltigen Bauch
schwerfällig gemacht, sitzt aufrecht auf der Bank, das Gesicht der Sonne
zugewandt, saugt die Sonnenstrahlen nach dem letzten kalten und beinahe
sonnenlosen Winter dankbar auf, neben ihr Itzik, größer und schlank, ein
schwarzer Bart rahmt sein Gesicht, der ihn älter als seine zweiundzwanzig
Jahre macht. Dann verläßt er Zippi, die Eltern, gleich um die Ecke in einem
ebensolchen Holzhaus wie er und Zippi wohnend, zu besuchen, wie jeden Tag,
bald würde er zurückkommen, denn Zippi braucht ihn im Augenblick dringender
als die Eltern. Zippi allein, genießt noch ein wenig die Sonne, dann bewegt
sie sich langsam ins Haus zurück, das Mittagessen zuzubereiten, kein Wasser,
der schwere Eimer geht über ihre Kräfte, Zippi legt sich auf das Bett, als
Itzik auf sich warten läßt. Er würde Wasser holen, und er würde das Feuer
schüren, alles für Zippi im Augenblick viel zu schwer und mühsam, auf dem
Bett liegend lauscht Zippi in sich herein, lächelt vor sich hin, als sie das
Kind spürt, ja, es würde ein Sohn werden, groß und stark, wie sein Vater.
Unvermittelt stürzt Itzik zur Tür herein, sucht mit den
Augen hastig nach Zippi, atmet erleichtert auf, als er sie im Halbdunkel auf
dem Bett liegen sieht, hört nicht ihre Bitte, Wasser zu holen, holt
stattdessen die starken Bretter aus der Ecke, in der sie stets griffbereit
stehen, die Nägel, einen schweren Hammer, ein Brett nach dem anderen klopft
er vor das Fenster, das erste, dann das zweite, zum Schluß vor die Tür,
hämmert und klopft, keucht und hämmert, schiebt schweratmend den Küchentisch
vor die Tür, sucht die Kerze, zündet sie an, erst dann hat er Zeit für Zippi,
die mit wissenden Augen stumm sein Tun verfolgt hat.
Schon einmal, als ganz kleines Mädchen, hatte sie mit
verhaltenem Atem hinter der verbarrikadierten Tür auf das Schreien und
Johlen des Pöbels gelauscht, damals, die Hälfte
ihrer weitläufigen Familie hatte er entweder ermordet oder ausgeplündert
oder auch beides, damals saß sie mit ihren Eltern hinter der mit Brettern
vernagelten Tür, hatte mit ihnen gelauscht, nur wenige Häuser vor dem
Elternhaus war der Pöbel des Wütens müde geworden, hatte aufgegeben, zog
davon, ohne ihnen ein Haar zu krümmen. Niemand hatte je daran gedacht,
fortzulaufen, nein, damit lebte man, man vernagelte Türen und Fenster und
wartete, daß das Unglück der Schwelle des Hauses fernblieb. Nur die jungen
Leute, die, die nicht mehr mit verhaltenem Atem hinter vernagelten Türen
warten wollten, die keine Angst mehr haben wollten, sie brachen auf, über
das große Meer gingen sie in die Neue Welt, in die Goldene Medine, dort, wo
sich niemand vor einem wütenden und schreienden Pöbel zu fürchten brauchte.
Auch Itzik hatte das Fortgehen erwogen, dann aber war er mit Zippi
verheiratet worden, und jetzt war sie schwanger, ihr erstes Kind, dem noch
weitere folgen würden. Und außerdem, was sollten sie beide allein in der
weiten fremden Welt anfangen, hier lebten ihre Eltern, ihre Onkels und
Tanten, ihre Cousins und Cousinen, dort, dort würden sie die ersten ihrer
Familie sein, aber ihre Kinder, ja die Kinder, die würden sie über das
großen Meer schicken, in die Neue Welt, in die Goldene Medine, wenigstens
ihre Enkel sollten aufwachsen, ohne je wieder Angst haben zu müssen.
Die Schreie nähern sich, durch Ritzen in der Wand sehen
Zippi und Itzik, die Sonne hat sich hinter Wolken verzogen, so rot aber der
Himmel, so schwarz die Wolken, schon Hämmern an der Tür, schon Gebrüll einer
betrunkenen Stimme, aufmachen, Gesindel, und Itzik und Zippi eng umschlungen
auf dem Bett, in Gedanken heiraten sie noch einmal, so glücklich damals
unter dem Baldachin, die sieben Segenssprüche, das zertretene Glas, die
Erinnerung an das zerstörte Jerusalem, die Klesmerim, der Tanz der Männer,
der Tanz der Frauen im Raum nebenan, ihre Eltern hatten sie miteinander
verheiratet, sie aber hatten Glück, Gefallen aneinander zu finden, beide
gleich jung, und Itzik ein liebevoller Ehemann, sehen noch einmal ihre
Kindhdeit, nie völlig unbeschwert, immer ein bedrohlicher Schatten, die
physische Bedrohung ein ständiger Begleiter ihrer gesamten Existenz, die bis
zu diesem Tag immer irgendwie kurz vor dem Elternhaus haltgemacht hat.
Jetzt aber hämmert es an der Tür, eine Axt schlägt gegen
das Holz, zersplitterndes Holz, eine verzerrte Grimasse durch das
entstandene Loch, ein grober Griff nach dem Türschloß. Plötzlich ist das
Zimmer voll, aufgerissene Truhen, herausgezerrte Tücher, Klirren von
Geschirr, drängende Schreie, das Gold, wo habt ihr das Gold versteckt, die
Wände werfen es als Echo zurück, das Gold, das Gold, blind sind sie, sehen
nicht die erschreckten Gesichter, nicht die angstvoll geweiteten Augen,
braun und sanft wie die eines Rehs, das Gold, wo ist das Gold? Itzik und
Zippi schweigen, werden ergriffen, gezerrt, Itziks letzter Blick gilt Zippi,
gilt seinem Sohn, sieben Monate alt, fast fertig, fast ein vollkommener
kleiner Mensch, fast bereit, auf die Welt zu kommen, frühzeitig auf die Welt
gekommen, gezerrt, frühzeitig das Leben beendet.
Rauch steigt auf in die Wolken, so rot gefärbt der
Horizont, so schwarz verhüllt die Sonne, so einsam die Stätte; keine
weiteren Kinder mehr an diesem Ort, keine Enkel in der Neuen Welt,
furchtlos. Diesmal hat die Wut nicht einige Häuser vor Zippis und Itziks
Haustür Halt gemacht.
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