Das jüdische Kulturfestival in Prag ist nach dem Namen eines
berühmten Buches von Georg Mordechaj Langer benannt: "Neun Tore".
Das Buch enthält chassidische Erzählungen. Georg Langer schrieb sie
nieder, nachdem er sich endgültig für ein "europäisches" Leben in
Prag entschieden hatte. Vorher hatte er einige Zeit bei den
Chassidim in Galizien gelebt. Geblieben ist ihm der Beiname "Prager
Chassid".
Der Chassidismus entstand zu einer Zeit, als die Juden in West- und Mitteleuropa
das Ghetto verließen, sich emanzipierten und sich unter dem Einfluß der
Aufklärung mehr und mehr assimilierten. D.h. sie gaben mehr und mehr ihre
religiösen Bräuche und Lebensweise auf und paßten sich an die christliche
Umgebung an. In Osteuropa ging dieser Prozeß aber wesentlich langsamer vor sich,
v.a. weil die rechtliche Gleichstellung der jüdischen Minderheit in Polen und
Rußland noch lange Zeit undenkbar war. Hier gab es viele blutige Progrome, aber
die jüdische Gesellschaft in Osteuropa wurde auch von schweren inneren,
religiösen Krisen erfaßt.
Die Hoffnung auf das Kommen des Messias, der das Leiden beenden würde, war in
der Bevölkerung sehr stark. Das klassische Judentum, also die Rabbiner und
Gelehrten konzentrierten sich als Antwort darauf noch strikter auf das rationale
Studium der heiligen Schriften und die Erfüllung der rituellen Gesetze. Das
führte zu einer großen Kluft zwischen den Gelehrten und der einfachen jüdischen
Bevölkerung.
In diesem politischen und geistigen Klima entstand die Bewegung der Chassidim
(der Frommen). Der Begründer des Chassidismus war Israel ben Elieser, genannt
der Baal-Schem-Tow (Meister des guten Namen) oder kurz Bescht, der etwa 1700 bis
1760 lebte. Die Hauptwirkung des Chassidismus kam zunächst nicht allein durch
die Lehre, sondern auch durch die Kraft der Persönlichkeit seines Begründers. Er
führte die Bewegung weg von der Askese, die zu dieser Zeit zusammen mit
mystischen Theorien enorm populär war. Anstelle dessen setzte Bescht eine neue
Führungspersönlichkeit, den Zaddik, den Gerechten, ein Mittler zwischen Gott und
den Menschen, der die bisher vorherrschende Führungsschicht deutlich veränderte.
Es ist leicht nachvollziehbar, daß die Lehre des Baal-Schem-Tow bald von weiten
Teilen der Juden in Polen, vor allem aber in der Jugend, begeistert aufgenommen
wurde. Sie bot eine Alternative zu der streng orthodoxen Form des klassischen
Rabbinismus oder der Rätselsprache der rein theoretischen Kabbalah, der
jüdischen Mystik. Die Chassidim hatten eine positive Lebensauffassung, Freude,
Tanz und Gesang waren alltäglich.
Schon in der dritten Generation hatte sich der Chassidismus über weite Teile
Osteuropas verbreitet. In Polen mußten an hohen jüdischen Feiertagen Sonderzüge
eingesetzt werden, um die Chassidim zu ihrem Zaddik zu bringen. In der Spätphase
wurde der Zaddikismus zunehmend selbstherrlicher und weniger charismatisch.
Historiker beschäftigen sich vor allem mit dem ungewöhnlich schnellen Tempo der
Ausbreitung des Chassidismus und der Ursache für diesen Erfolg. Heute sieht man
den Grund nicht mehr, wie lange Zeit angenommen, in der sozialen Botschaft des
Chassidismus, sondern vielmehr in seiner religiösen. Der Chassidismus öffnete
jedem Einzelnen die mystische Welt, die enge Bindung an Gott war nicht mehr
einer kleinen Elitegruppe, den Rabbinern, vorbehalten.
Eigene Bestimmungen im Bereich des religiösen Lebens separierten die Chassidim
nicht unbedeutend von der übrigen jüdischen Gesellschaft. Zum Konflikt mit den
Rabbinern führte jedoch vor allem die Tatsache, daß der Chassidismus zu einem
bedeutenden sozialen Faktor im jüdischen Leben wurde und dadurch die Strukturen
der Gesellschaft veränderte. Die Bedeutung der Rabbiner wurde in chassidischen
Gemeinden beträchtlich geschmälert, der chassidische Rebbe hatte nun dort die
höchste Autorität inne. Es kam daher zu sehr schweren Auseinandersetzungen
zwischen den Rabbinern und den Chassidim, was das jüdische Leben in Osteuropa
sehr geprägt hat.
Mit der Vernichtung des osteuropäischen Judentums während des Zweiten
Weltkrieges drohte auch die physische Vernichtung des Chassidismus. Zahlreichen
Chassidim gelang jedoch die Flucht vor den Nazis, heute lebt die große Mehrheit
von ihnen in New York und Israel. Doch auch in Europa lassen sich in vielen
Gemeinden Anhänger chassidischer Rebbes finden. Vor allem die ChaBaD-Richtung
erlebt einen bedeutenden Aufschwung. Ihr Hauptsitz ist in in Brooklyn/New York,
insgesamt existieren über 1000 ChaBaD-Zentren auf der ganzen Welt.
Georg Langer war von der Welt des Chassidismus fasziniert. Er fand in ihr
zunächst die religiöse Erfüllung, die ihm das bürgerliche Leben in Prag nicht
geben konnte. Allerdings hat er sich schließlich entschieden, diese Welt wieder
zu verlassen, da er erkannte, dass auch die chassidischen Lehren nicht makellos
sind. Langer wollte jedoch die Weisheiten der chassidischen Rebbe für das
westeuropäische Publikum zugänglich machen und schrieb daher die Geschichten
auf. So entstand das Buch "Die neun Tore".
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haGalil onLine 18-10-2000
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