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Vor kurzem hatte ich Gelegenheit, einen
Vortrag zum Thema "Kultur – Über-Ich und die Gedenkreligion des Holocaust" zu
hören. Der Titel verrät sofort ,dass der Vortragende ein Psychoanalytiker war.
Beim Zuhören gewann ich den Eindruck,
dass der Festvortrag eine gewisse Ähnlichkeit mit jenem von Martin Walser hatte,
in dem er bekannte nicht mehr von Auschwitz hören zu können.
Der Psychoanalytiker behauptete zum
Beispiel, dass es in Israel bislang verboten gewesen sei, über andere Fälle von
Völkermord zu unterrichten. Ich habe selber, während meiner Schulzeit in Israel,
erstmals von dem Völkermord an den Armeniern erfahren. Also weiß ich, daß die
Behauptung falsch ist. Warum aber wurde sie aufgestellt? Setzt man den
psychoanalytischen Begriff des Über-Ich mit der Moralkeule Martin Walsers
gleich, dann eröffnet sich ein Sinn für die Behauptung. Die Erinnerung an die
Shoah wird sozusagen "geheiligt". Es soll keine andere Erinnerung neben ihr
geben. Dadurch wird sie Teil eines gesellschaftlichen Über – Ichs und damit zur
Moralkeule, über die Martin Walser und andere so lamentieren.
Das Erinnern an "das, was geschah"
( mit dieser vorsichtigen Redewendung pflegte der Dichter Paul Celan die
Ereignisse des "Dritten Reichs", vor allem des Mordes an Juden, auszudrücken)
hat tatsächlich etwas Religiöses an sich, jedenfalls was Intensität und
Emotionalität der Erinnerung angeht. Der Begriff des Gedenkens legt ja eine
religiöse Haltung nahe. Auch die Tatsache der Festlegung eines bestimmten,
jährlich wiederkehrenden Tages, an dem dieses gemeinsames Gedenken stattfindet,
ist eine Ritualisierung die religiöse Elemente, wie zum Beispiel Gebete,
enthält.
Soweit dürfte Einigkeit herzustellen
sein. Aber schon bei der Gestaltung und der daraus abzuleitenden Bedeutung
dieser ritualisierten Erinnerung kann man Unterschiede feststellen.
In religiösen und theologischen jüdischen
Kreisen ist über den Zusammenhang zwischen "dem, was geschah" und Fragen des
Glaubens schon lange nachgedacht worden. Sowohl in orthodoxen als auch in
reformierten Kreisen. Dazu braucht man nicht nur an die jüngsten Äußerungen des
sephardischen Oberrabbiners in Jerusalem, Ovadia Josef, zu erinnern. Der soll
gesagt haben, dass die Opfer gestorben seien für Sünden, die sie in einem
früheren Leben begangen hätten. Meines Wissens ist die These erstmals in einer
Yeshiva des Shanghaier Gettos formuliert worden wonach die Verfolgung der Juden
eine göttliche Strafe für den Prozess der Assimilation in Deutschland gewesen
sei. Ich erinnere mich auch, in den sechziger Jahren gelesen zu haben, dass in
Kreisen des Reformjudentums in den Vereinigten Staaten der Gedanke formuliert
wurde, dass die Judenverfolgung im Dritten Reich in der Identitätsgeschichte des
jüdischen Volkes eines Tages einen Platz einnehmen würde wie der Auszug aus
Ägypten.
Pessach, Purim, und Chanuka sind
religiöse Feiertage, anlässlich derer an die Verfolgung von Juden in
unterschiedlichen Epochen ihrer Geschichte gedacht wird. An jedem dieser Anlässe
wird aber nicht nur an die Verfolgung und die Gefahr der Ausrottung erinnert,
sondern gleichzeitig wird an den Triumph der Errettung, und an die Würde des
Widerstands erinnert. Das ist im Falle des Jom Hashoah in Israel – und in der
Diaspora - nicht anders. In Israel ist der Tag des Gedenkens eingebettet
zwischen andere Gedenktage, zum Beispiel den an die Toten und Gefallenen der
Kriege Israels, und ist in unmittelbarer Nähe zum staatlichen
Unabhängigkeitstag. Aus diesem Gedenken speist sich, ein Teil der Identität von
Juden.
So gesehen ist es verständlich, wenn
Nichtjuden durch diese "Sakralisierung" irritiert sind. Bedeutet doch die
Erinnerung an die Opfer der Verfolgung auch zwangsläufig die Erinnerung an die
Täter. Die kann man weder betrauern noch positiv in die Erinnerung hereinnehmen.
Und wenn die Nichtjuden dann auch noch die Nachkommen der Täter sind – mit
ererbter Verantwortung, aber ohne jede Kollektivschuld - empfinden sie zwar, die
Erinnerung an die Opfer, für richtig und notwendig, können sie aber nicht mit
den Nachkommen der Opfer teilen.
Viele unter ihnen scheinen einen Weg aus
diesem Dilemma zu suchen. Peinlichkeiten, die wir in den vergangenen Jahren oft
genug erleben konnten – von der Rede des damaligen Bundestagpräsidenten
Jenninger, der anschließend seinen Posten räumen musste, weil man seinen
Versuch, zu erklären, was gewesen ist, verstehen konnte als ein Buhlen um
Verständnis für die Machtergreifung der Nazis- sind dafür ein Beispiel. Genauso
wie die jahrelange Debatte um das Berliner Mahnmal, von dem noch immer
gezweifelt wird, ob es am Ende tatsächlich entstehen wird. Manche aber reagieren
auf dieses Dilemma mit Aggressionen. Wie Martin Walser, wie jener
Psychoanalytiker, den ich eingangs erwähnte. Und wie die zahlreichen anonymen
Neonazis.
Peter
Finkelgruen / haGalil onLine 25-10-2000 |